Wow, was für ein Jahr 2022. Die politischen und gesellschaftlichen Zustände sind beschissen wie nie, aber richten wir den Blick auf das Schöne: Musikalisch gab es dieses Jahr wieder einiges zu bieten. Als ich mich an meinen Jahresrückblick gesetzt habe, schien es für mich zuerst so, dass das Genre Hardcore/Punk mich 2022 nicht komplett überzeugen konnte. Irgendwie ist einiges an neuer Musik ein wenig an mir vorbei gegangen oder nebenher gelaufen, ohne richtig damit warm zu werden. Als ich die Alben und EPs jedoch noch einmal Revue passieren ließ, zeichnete sich ein komplett anderes Bild. So viele neue Bands und Veröffentlichungen durfte ich dieses Jahr kennenlernen und – so viel vorweg – unsere Subkultur ist lebendig, divers(er) und erfrischend. Was mir während des Jahres nicht genug schien, stellt sich in der Gesamtheit doch als ordentliche Packung an Hardcore und Punk im Jahr 2022 heraus!
Bevor es losgeht, noch ein paar Sätze zu mir: Ich bin Fischi, 30 Jahre alt und wohne in Ulm. Ich organisiere Punkrock-Konzerte bei Broken Stage in Ulm. Außerdem spiele ich in zwei Bands (Punk und Hardcore), betreibe das 2020 gegründete Label Modern Illusion Records mit meinem Bruder und schreibe seit 2017 für AWAY FROM LIFE, was bedeutet, dass dies bereits mein sechster Jahresrückblick ist!
Alben des Jahres 2022
Drug Church – Hygiene (Pure Noise Records)
Was mich besonders an Drug Church fasziniert, ist – neben der unverwechselbaren Stimme von Sänger Patrick Kindlon – die Unbekümmertheit, mit der die Band an den Sound und das Songwriting herangehen. Heraus kommt ein schwer zu beschreibender Mix aus Indie, Hardcore und Grunge/Rock: Erfrischend, abwechslungsreich und neue Wege gehend zeigen sich Drug Church auf Hygiene spielfreudig wie nie. Der Oberhit ist natürlich Detective Lieutenant, bei dem vor allem die Gitarren alles wegpusten, was ihnen im Weg steht. Grundsätzlich wird jedoch bei keinem Song daneben gegriffen, was das Album zu einem der Stärksten 2022 macht.
Praise – All In A Dream (Revelation Records)
Dass es sich bei Praise um eine waschechte „Supergroup“ handelt, erahnt man recht schnell, wenn sich die (Ex-)Bands der Mitglieder angeschaut werden: Mindset, Champion, Turnstile, Angel Du$t, … Ähnlich wie bei Drug Church ist der Stil von Praise nicht einfach zu beschreiben, denn um klassischen Hardcore handelt es sich hier beileibe nicht: Ausgefeilte Gitarren-Melodien, eingängiger Gesang, mal schnell, mal langsam. Hardcore für Erwachsene? Vielleicht ist das ein zutreffendes Prädikat. Praise hinterlassen mit All In A Dream auf jeden Fall bleibenden Eindruck und das Tape wird bei mir über dieses Jahr hinaus noch öfter laufen. Peace Of Mine und der Titelsong All In A Dream sind die Hits!
After The Fall – Isolation (SBÄM Records)
Voll auf die zwölf geht es mit After The Fall aus den Staaten weiter: Hyperschneller, mit der richtigen Prise Melancholie angereicherter (Hardcore-)Punk, mal melodischer im Gesang, mal rauer – funktioniert dann am besten, wenn sich die weibliche und die männliche Stimme in den Songs ergänzen. So muss Punk sein! Hier wird kein Stein auf dem anderen gelassen und die zehn Songs auf Isolation sind in weniger als siebzehn Minuten durchgeprügelt – geil!
Deadends – Rebel Songs In Minor Key (Fond Of Life)
Wer auf rauen Gainesville-Punk (nur schneller) steht, sollte definitiv ein Ohr bei den Österreichern Deadends riskieren. Denn die haben dieses Jahr ein wahnsinnig gutes Album herausgebracht. Besonders die Stimmen, die trotz der Rotzigkeit nie die Melodie links liegen lassen, wissen zu überzeugen. Die Grundmelancholie, die sich durch beinahe alle Songs auf Rebel Songs In Minor Key zieht, gefällt mir ebenfalls sehr gut und drängt sich nicht störend auf. Live hat die Band mich bereits des Öfteren an der Beach Stage des Punk Rock Holiday überzeugt, nun auch endlich auf Platte!
Berthold City – When Words Are Not Enough (WAR Records)
WAR Records-Gründer und Strife-Gitarrist Andrew Kline hat mit Berthold City vor wenigen Jahren eine klassische Hardcore-Band aus der Taufe gehoben. Nach zwei EPs nun also das erste Studio-Album When Words Are Not Enough. Wer auf Uptempo-Hardcore mit brachialem Gesang und Durchschlagskraft steht, kommt an dieser Band nicht vorbei. Definitiv das Hardcore-Album des Jahres!
Weitere gelungene Alben:
Phantom Bay – Phantom Bay (Krod Records)
Comeback Kid – Heavy Steps (Nuclear Blast)
Mindforce – New Lords (Triple B Records)
SPARK – Supernova (Control Records)
EPs des Jahres 2022
End It! – Unpleasant Living (Flatspot Records)
End It! sind eine DER Neu-Entdeckungen für mich im Jahr 2022. Mit Unpleasant Living schmeißen die US-Amerikaner eine EP in den Ring, die anders ist, als vieles Bekannte. Das sympathische Auftreten live, die sehr hohe und oft sprechgesangähnliche Stimme des Sängers und besonders das Tempo und die anschließenden Breaks machen End It! für mich zu einer der spannendsten Akteure der Szene zurzeit. Unbedingt auschecken!
Minus Youth – Sun
Ende des Jahres haben die Stuttgarter Minus Youth nochmal ein starkes Beben in der Hardcore-Szene hinterlassen. Limitiert auf 80 Platten wurden die vier neuen Songs der Welt präsentiert. Sun ist sehr stark aufgenommen und der Sound wurde nach dem letzten Album konsequent weiterentwickelt. Besonders gesanglich ist die Band nochmal einen großen Schritt weitergegangen und hat mehr Variabilität eingebaut. Live werden die Songs mit Sicherheit viel Spaß machen!
End On End – People Like You (New Morality Zine)
Auch wenn Spotify und andere Streaming-Dienste zurecht für vieles kritisiert werden können, sie haben auch Gutes. Denn nur so ist es mir möglich, eine derart große Bandbreite an neuen Bands kennenzulernen. End On End gehören definitiv dazu. Der Sound der Band ist nicht neu, aber muss er das? Natürlich nicht. Youth-Crew/Hardcore-Punk vom Feinsten werden einem um die Ohren geballert. Bester Song auf People Like You: Cannon Fodder.
Take It To Heart – Hymns For The Hopeless (Safe Inside Records)
In eine ähnliche Kerbe schlagen Take It To Heart, wenn auch mit einem kleinen Unterschied: Das Ganze wird melodischer angegangen. So entsteht emotionaler Hardcore-Punk mit brachialem Gesang, der auf treibende Drums und stark platzierte Tempowechsel trifft. Definitive Hörempfehlung, gleich der Opener Ghostwriting A Catharsis ist der beste Song der EP.
Weitere gelungene EPs:
Love Forty Down – Don’t Be A Stranger (SBÄM Records)
Without Love – Surrender (Modern Illusion Records)
Newcomer des Jahres 2022
Farewell Signs (Ex-Bridges Left Burning, Ex-Red Tape Parade)
Bei Farewell Signs trifft man auf alte Bekannte: unter Anderem Mitglieder von Bridges Left Burning und Red Tape Parade haben sich zusammen getan, um eine neue Band zu gründen. Dass dabei nur Gutes herauskommen kann, zeigen bereits die ersten veröffentlichten EPs. Ich bin mir sehr sicher, dass man von Farewell Signs bald noch mehr zu hören bekommt.
Statement Of Pride
Bereits anhand des Bandnamens wird klar, dass es sich bei Statement of Pride um eine Straight Edge Band handelt. Der Name gefällt mir nicht, aber sei’s drum, denn die Musik ist stark. Es kommt das Erwartbare, aber das hat es in sich!
Rapid Fire
Rapid Fire aus North Carolina haben im Februar ihr erstes Demo veröffentlicht. Hier geht es wild zu, schnelle Drums, Two-Step-Parts und die nötige Energie – so muss Hardcore!
Echo Chamber
Echo Chamber aus Köln haben mit ihrem Demo dieses Jahr ein erstes Ausrufezeichen in der Szene setzen können. Eine Band, die man getrost als eine der Hardcore-Hoffnungen aus Deutschland betiteln kann.
Highlights des Jahres 2022
Neben den genannten Alben war ich persönlich sehr froh, dass es wieder möglich wurde, entspannter auf Konzerte zu gehen. Und dies wurde intensiv zelebriert. Vier möchte ich im Folgenden besonders herausheben:
09.04.2022 Schwarzer Engel St. Gallen / Schweiz
Anfang April ging es mit meiner Band Act The Fool in die Schweiz. Das erste Konzert seit einem halben Jahr stand an. Wieso dieses Konzert zu einem meiner Highlights dieses Jahr zählt? Genau aus diesem Grund! Wir hatten lange nicht gespielt, die Vorfreude war groß, die Nervosität auch. In St. Gallen angekommen wurden wir super nett empfangen, das Essen war top und generell ist der Schwarze Engel ein Restaurant/Club, den ihr unbedingt besuchen solltet, wenn ihr in der Nähe seid. Nach den ersten beiden Schweizer Bands Grimace und Aprés La Chute (beides geile Sets) waren wir an der Reihe. Oh, wie das gefehlt hat. Der Laden war sehr klein und brechend voll, die Leute hatten dermaßen Bock und so entbrannte vor der nicht vorhandenen Bühne eine Pogo-Two-Step-Party, wie sie besser hätte nicht sein können. Zum krönenden Abschluss sollten dann die Schweizer Gut Wound ran, deren Schlagzeuger wurde am selben Abend jedoch positiv auf Corona getestet. Die Band war da, aber kein Schlagzeuger mehr. Was tun? So gab es einen der schönsten Momente dieses Jahres, als sich im ganzen Raum vier Drummer fanden, die je einen, zwei oder drei Songs in wenigen Minuten lernten und dann auch spielten (u.a. auch Felix von uns), so dass Gut Wound am Ende des Abends immerhin neun Songs zum Besten geben konnten. Und auch hier drehte der Schwarze Engel wieder durch, so dass alle mit einem breiten Grinsen nach Hause fuhren. Punk ist das Geilste!
Ein paar kurze Ausschnitte findet ihr hier bei Instagram.
22.06.2022 Good Riddance im Club Cann in Stuttgart
Das erste Mal Good Riddance live, dazu die spielfreudigen Useless ID. Checkt den Konzertbericht!
14.08.2022 Comeback Kid im Club Vaudeville Lindau
Ein weiteres Konzerthighlight im schönen Lindau, Comeback Kid liefern einfach immer ab. Checkt gerne den Konzertbericht!
13.10.2022 Hot Water Music, Boysetsfire, Samiam, Be Well im LKA Longhorn in Stuttgart
Was für ein Package! Leider haben Be Well schon vor 19 Uhr angefangen, deshalb wurde die Band um den Battery-Frontmann leider verpasst. Was Samiam, Hot Water Music und Boysetsfire anschließend abgerissen haben war allerdings erste Sahne! Da hat es an nichts gefehlt und so endete ein Donnerstag-Abend glücklich und zufrieden.
Darüber hinaus ist es sehr schön zu sehen, dass die Hardcore-Szene meinem Anschein nach diverser wird. Ein Beispiel: Bands die weibliche Sängerinnen haben, wie GEL und Scowl in den Staaten (checkt mal die Youtube-Kanäle von Hate5six, Feet First Productions und weiteren), oder Lifecrusher und Swoon im deutschsprachigen Raum, spielen sich den Arsch ab und das wird honoriert. Das ist schön zu sehen und lässt mich hoffen, dass das so weitergeht. Denn davon profitieren im Endeffekt alle!
Enttäuschung des Jahres 2022
Die Auswirkungen der Corona-Pandemie sind nach wie vor spürbar in der Musikszene, vor allem in kleineren Sparten wie unserer Subkultur. Dass Konzerte nicht besucht werden und deshalb abgesagt oder verschoben werden müssen, tut schon weh. Bei dem Überangebot und den damit verbundenen Entscheidungsproblemen, den gestiegenen Lebenshaltungskosten und den (verständlicherweise) teureren Ticketpreisen ist das leider nicht allzu überraschend. Schuldzuweisungen möchte ich an dieser Stelle nicht machen, diese wären auch nicht gerechtfertigt, denn alle Seiten haben vernünftige Argumente für ihre Entscheidungen. Ich hoffe bloß, dass sich die Lage wieder etwas entspannt und in den nächsten Jahren wieder mehr Planungssicherheit für Bands, Veranstalter*innen, Labels und Konzertgänger*innen herrschen kann.
Ausblick für 2022: Für das nächste Jahr wünsche ich mir…
- Dass alle Parteien unserer Szene die Nachwirkungen der Corona-Pandemie gut überstehen.
- Dass Banner Pilot endlich ein neues Album rausbringen. Wie lange muss ich noch warten?! Seit meinem Jahresrückblick 2017 wünsche ich mir das, so langsam habe ich das Gefühl, die Band liest hier nicht mit oder nimmt es nicht ernst… 😉
- Dass sich die Szene weiterentwickelt, wie sie es in Ansätzen bereits tut. Dass FLINTA*-Bands mehr Raum gegeben wird, dass diskriminierende Strukturen überwunden werden und dass vermittelt und sich ausgetauscht wird.
- Und natürlich: Konzerte, Konzerte, Konzerte!
Leserumfrage
Und jetzt seid Ihr dran: verratet uns bis zum 31. Dezember Eure Highlights des Jahres in der Leserumfrage. Zu gewinnen gibt es dieses Jahr zwar nichts, aber dafür könnt ihr mit Euren Antworten Gutes tun. Für jede abgeschickte Umfrage spenden wir 1,- € an Mission Lifeline. Also los:
Die Ergebnisse der Umfrage stellen wir Euch dann im Januar 2023 vor. Wir sind gespannt auf Eure Antworten und wünschen Euch schon mal besinnliche Feiertage mit Euren Liebsten und einen guten Start ins neue Jahr!
PS: Folgt hier unserer Spotify-Playlist zum Best-Of 2022.