31 Jahre Dritte Wahl! EINUNDDREISSIG! Denkt Mann*Frau an sein*Ihr Leben zurück, wird die Erkenntnis reifen, das in 31 Jahren jede Menge Wasser die Elbe runter geflossen ist, viel Bier die Kehlen runtergespült wurde und im Idealfall noch mehr gute Platten die Gehörgänge verwöhnen durften. Viele Erinnerungen verblasen in diesem Zeitraum, viele haben sich aber auch manifestiert und bereiten immer wieder Freud´ und Leid, wenn diese bewusst oder unbewusst hervorgekramt werden. So dürfte es den meisten Menschen gehen, so geht es auch mir. Einigen Menschen wird zusätzlich noch eine Gabe zu Teil, die einen gewissen Unterschied ausmachen: Die können ganz passabel kicken und landen irgendwo zwischen dritter und erster Bundesliga bei einem mehr oder weniger erfolgreichen Verein, andere haben musikalische Fähigkeiten und landen damit auf den kleinen und großen Konzertbühnen dieser Welt.
Ob die Mannen um Dritte Wahl Sänger Gunnar kicken können weiß ich tatsächlich nicht, Anhänger eines mäßigen Drittligisten sind die in Teilen aber schon mal. Dafür besticht die Band, die ihren Ursprung in Rostock hat, mit musikalischen Fähigkeiten, die sie von Bühnen in kleinen Jugendzentren bis zum Wacken Open Air befördert hat. Und auf Tourneen mit den Toten Hosen. Und auf eine Bandreise nach Kuba. Und Und Und. In 31 Jahren lässt sich als Musiker nun mal einiges erleben.
Dritte Wahl haben die mehr als drei Dekaden ihres Schaffens mit ordentlich Leben gefüllt- und mit einigen Platten. Insgesamt zehn veröffentlichte Longspielplatten, unzählige Singleauskopplungen und Liveaufnahmen – dazu einige Features wie beispielsweise mit Sondaschule zum offiziellen 30 jährigen Bandjubiläum im Jahr 2018. Das alles wurde untermauert mit (gerne mal ausverkauften) Tourneen, was gepaart mit einer recht breiten musikalischen Varianz für eine genreübergreifende Anhängerschaft sorgte. Diese erfreut sich bei jeder Tour immer wiederkehrend an den starken Liveauftritten, die sich mittlerweile im ganzen deutschsprachigen Raum rumgesprochen haben dürfte. Dieses im Gesamten dreiteilige Spezial liefert einen kleinen Überblick über die bisherigen drei Dekaden der Band, deren Diskografie, deren Zukunftspläne sowie deren Livequalitäten. Teil I des Specials ist der, den ihr gerade hier lest, Teil II ist ein Konzertbericht vom Tourabschluss 2019 in Hamburg und der dritte Teil liefert ein ausführliches Interview mit dem sympatischen Sänger Gunnar. Dieser liefert hier ein eine kleinen Einblick in den Bandalltag der vier Herren, erzählt warum das 1992 erschienene Mainzer Straße noch immer zeitgemäß ist , warum ihm das aktuelle politische Klima in Deutschland und der restlichen Welt etwas ratlos dreinblicken lässt und warum der Ukrainekonflikt einen besonderen Stellenwert für ihn einnimmt.
Bandgeschichte
Im Jahr 1988 gründete sich Dritte Wahl in Rostock, wo im gleichen Jahr noch der Premierenauftritt stattfand. Gründungsmitglieder waren neben Sänger und Gitarist Gunnar noch Bassist Busch´n sowie Holm am Bass und Krel an den Drums. Besetzungswechsel gab es wenige, dafür allerdings einen, der die Band in ihren Grundfesten erschüttern sollte. Bassist Busch´n starb in Folge eines Magen-Karzinoms, was Dritte Wahl in ihren Song Auf der Flucht (Hörprobe) verarbeiteten. Anschließend ging es auch auf Wunsch des verstorbenen Bassisten weiter mit der Band, allerdings bis zur Veröffentlichung von Geblitztdingst als Band-Dreier. Anschließend wurde ein Freund der Band, Holger H., als neues Bandmitglied präsentiert.
Unabhängig von der Besetzung tourt Dritte Wahl gefühlt jährlich durch deutsche Landen, weite Teile Europas oder auch mal nach durch Kuba – je nachdem ob eine Headlinertour oder ein Supportslot anfällt. So kam es zu einer illustren Sammlung an bereisten Ländern, an geteilten Festivalbühnen und an geschlossenen (Band)Freundschaften. Szenegrößen wie The Exploited oder Die Toten Hosen stellen dabei mit Sicherheit die Bekanntesten dar und gesellen sich zu „kleineren“ Bands wie Sondaschule oder auch Zona84. Ergänzt wird diese (Punk)Liste durch Metalbands wie HeavenShallBurn oder Kreator, die zusammen auch mal (auf großartige Art und Weise) Dritte Wahl covern sollten (Link zu Auge um Auge). Eine besondere Ehre wurde hierbei Sondaschule zu Teil, welche zum 30jährigen Bandjubiläum von Dritte Wahl ein Feature mit den Rostockern aufnahmen (Der große Tag). Ein sehr eingängiger Song, der live der absolute Party- und Konfettigarant ist!
Konfetti und Punk
Konfetti und Punk, ein Oxymoron? Befasst man sich musikalisch oder auch im Rahmen einer Artikelrecherche mit Dritte Wahl , so merkt der*die Interessierte recht schnell, das es sich bei der Band um keine gewöhnliche Deutschpunkband handelt. Immer wieder wird die musikalische Varianz der Herren gepredigt und rezipiert. Die Bandbreite reicht von klassischen Punk hinzu Metal-, Reggae- und Schlagereinflüssen. Jeder der die Band von Tonträgern oder Konzerten kennt, weiß sofort, was gemeint ist. Über die Inspiration zu den abwechslungsreichen Songs und auch zum neuen Album, welches Ende 2020 erwartet wird, spricht Gunnar auch im großen AFL-Interview.
Eins ist bei Dritte Wahl definitiv gewiss: Es wird nie langweilig auf den Alben. Um einen kurzen Einblick zu bekommen, werden aus jeder Dekade ein ausgewähltes Album vorgestellt, welche bei mir als alles andere als objektiver Schreiber diese Zeilen einen besonderen Stellenwert einnehmen.
Fasching in Bonn (1992): Eines der klassischeren Deutschpunk-Alben der Band. Und zudem auch schon ein paar Jährchen alt, wie man an dem Titel, der sich selbstredend auf die ehemalige Bundeshauptstadt bezieht. Hier wird auf 16 Liedern gewettert, geschrabbelt und kritisiert, was das Zeug hält. Favoriten der Platte: Nicht wirklich zu bestimmen, die Platte läuft einfach so durch und verströmt den typischen Vibe der Dritte Wahl Veröffentlichungen dieser Dekade. Verlorenes Paradies (schön schnell und rotzig) und Mainzer (schön düster, musikalisch einfach und textlich klassisch) taugen auf jeden Fall zum reinhören.
Fortschritt (2005): Stimmlich, musikalisch und produktionstechnisch klingt Fortschritt weitaus Erwachsener als als Fasching in Bonn. Zudem hat die Band mit Zeit bleibt stehen einen Song auf dem Album, der nach eigener Einschätzung zum Klassiker taugt. Zudem wird es mit Rastermann noch reaggaelastig , mit der plattdeutschen Variante von Hoch in ´n Norden kehrt auch noch Lokalkolorit ein. Herrlich.
Geblitzdingst (2015): Hier gibt es auch wieder Dritte Wahl satt. Was dieses Album etwas spezieller macht, ist nach meiner Meinung Zu wahr um schön zu sein – eine gemütliche Midtemponummer, die nach knapp zwei Minuten nochmal das Tempo anzieht und auf die Dummheit der Menschheit abzielt – „Und vielleicht wären wir zusammen in der Lage, uns von diesen alten Zwängen zu befreien. Oder ist die Welt für jetzt in alle Tage, viel zu wahr um schön zu sein“. Da ist sie wieder, die Erkenntnis, das eine menschliche Einheit an der von Mensch gemachter Realität scheitern wird. Und zwei Songs weiter liefern die Herren gleich nochmal eine entspannte, kritische und etwas subtilere Nummer zum nachdenken: Sirenen. Dazu gesellen sich Liveklassiker wie Der Spiegel oder Was weiß ich schon von der Liebe.
Der große Tag (2018): Die Jubiläums-EP darf hier natürlich nicht fehlen. Hier gibt bei dreieinhalb Minuten Spielzeit bläsergestützten Deutschpunk, der sich live zum absoluten Kracher entwickelt. Sondaschule durften mitwirken und versprühen auf Platte und bei gemeinsamen Auftritten wie in Hamburg letzten Dezember pure Spielfreude. Konfettikanonen inklusive. Wer auch immer jetzt denkt, Konfetti und Punk in Kombination gehen gar nicht, möge sich zur nächsten Tour bewegen und sich vom Gegenteil überzeugen.
In diesem Sinne: Dritte Wahl, macht weiter so. Seid auch in den nächsten Dekaden kritisch, direkt, mal subtil, mal rotzig, mal schlageresk und liefert meinen Gehörgängen weiter Futter. Auch wenn ich etwas spät dran bin damit:
Happy Birthday, altes Haus!