Kettcar haben sich in den 23 Jahren ihrer Karriere von „hey der Sänger von But Alive macht jetzt Emo auf Deutsch“ zu einer festen Größe in der deutschen Indie Musikszene und darüber hinaus entwickelt. Die neue Single München wird dann auch erstmal von DER SPIEGEL abgefeiert.
Ganze sechseinhalb Jahre nach dem letzten Studioalbum (2019 gab es noch eine EP und ein Live Album als Zwischengeschmack) steht nun mit Gute Laune ungerecht verteilt das sechste Studioalbum der Band aus Hamburg in den Startlöchern. Das ganze kommt in verschiedenen (Deluxe) Vinylversionen, CD und natürlich digital wie gehabt auf dem hauseigenen Label Grand Hotel Van Cleef raus.
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Drei Singles gab’s vorab, wobei insbesondere München vor dem Hintergrund des Potsdamer Treffens Rechtsextremer und den deutschlandweiten Protesten gegen Rechts viel Beachtung gefunden hat. Der Song schlägt in eine ähnliche Kerbe wie Sommer 89, sowohl von der inhaltlichen, politischen Positionierung als auch im Aufbau mit Sprechgesang in der Strophe und gesungenem Refrain. Wobei München nicht ganz an diesen Song aus dem Jahr 2017 herankommt, sowohl musikalisch als vielleicht auch, weil die innerdeutsche Fluchtgeschichte für eine biodeutsche Kartoffel emotional einfacher zugänglich und bedrückender ist, als die Erfahrungen, aus einer Familie mit Migrationshintergrund kommend in diesem Land aufzuwachsen.
Ob Gute Laune ungerecht verteilt nun „das politischste Album…“ von Kettcar ist (wie in Auch für mich 6. Stunde kurz kolportiert), ist zumindest zweifelhaft, denn Kettcar waren immer schon politisch. Gute Laune ungerecht verteilt enthält erneut eine Mischung aus politischen und persönlichen Texten sowie einfach abstrakten Geschichten. Das ganze wird vorgetragen von Marcus Wiebuschs unverkennbarer Stimme in einem Wechsel aus Sprechgesang und Gesang.
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Musikalisch bleibt alles beim Alten: Indierock auf Gitarrenbasis mit Klavierunterstützung und den ein oder anderen Soundspielereien. Dabei gibt es sowohl Melodien, die sich ins Ohr schmeicheln, als auch eher vertrackte Harmoniewechsel. Das neue Album ist im Durchschnitt etwas ruhiger geworden als die letzten Veröffentlichungen, bietet aber keinen signifikanten Stilwechsel.
Das Besondere an Kettcar seit jeher (wie auch vorher bei But Alive) ist die Fähigkeit von Marcus Wiebusch mit Worten zu spielen: politische Themen werden verpackt in die Beschreibung von Alltagssituationen, Stichwortsammlungen, plakative Aussagen, bei denen man sich auch mal selbst ertappt fühlt; über Geschichten werden Gleichnisse gesponnen, die sich erst Stück für Stück erschließen; komplizierte Satz-Reim-Gebilde zusammengebaut, die sich gern auch mal gegen das Versmaß stemmen und geschickt mit Binnenreimen spielen.
Das ganze gelingt zumeist wieder hervorragend, schießt aber manchmal auch über das Ziel hinaus. So wirkt der Abschluss des Refrains von München „mein Herz ist ein totgeschlagenes Robbenbaby“ irgendwie unvollständig und passt auch vom Bild her wenig in den Rest des Songs. In einzelnen Fällen scheint es auch zu viele Silben für zu wenig Taktschläge zu geben, mal ist es auch genau umgekehrt. Dann muss halt „Goh-hot“ in Zurück über zwei Schläge gezogen werden.
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Da kann man aber sehr einfach drüber hinwegsehen, denn das Gesamtergebnis Gute Laune ungerecht verteilt sucht mal wieder seinesgleichen in der deutschsprachigen Musiklandschaft.
Gerade Gesang und Texte brauchen aber Aufmerksamkeit. Gibt man diese, kann man sich in den 12 Songs für eine drei Viertel Stunde verlieren und das Album lässt die/den Hörer*in ein wenig nachdenklicher zurück. Das neue Kettcar Album nur nebenbei zu konsumieren, wird dem Werk nicht gerecht. Dafür steckt zu viel drin. Und das ist leider selten genug zu sagen über Veröffentlichungen heute.
Tracklist
- Auch für mich 6. Stunde
- München (feat. Chris Hell von FJØRT)
- Doug & Florence
- Rügen
- Kanye in Bayreuth
- Blaue Lagune, 21:45 Uhr
- Wir betraten die Enterprise mit falschen Erwartungen
- Einkaufen in Zeiten des Krieges
- Was wir sehen wollten
- Bringt mich zu eurem Anführer
- Zurück
- Ein Brief meines 20-jährigen Ichs (Jedes Ideal ist ein Richter)
