5 Jahre nach der gefeierten Erfolgsplatte True View veröffentlichen Stick To Your Guns über End Hits Records am 29. Juli 2022 nun ihr bisher siebtes Album namens Spectre. Und das Warten hat sich definitiv gelohnt. Die Platte überzeugt mit der gewohnten Energie und Leidenschaft sowie mit einer neuen Reife und Präzision. Dies ist das Ergebnis aus jahrelanger Erfahrung und Offenheit für Neues.
Große mitreißende Refrains wie auch früher schon bei Amber oder We Still Believe treffen auf fast schon halsbrecherische Breakdowns. Die Stimmung über die 12 Stücke hinweg variiert zwischen gnadenlos aggressiv und extrem verletztlich. Emotional ist es eine Achterbahn der Gefühle mit Schlag in die Magengrube, ein sich Fallen lassen ohne aufzuprallen.
Ausgefeilte Gitarrenriffs treffen auf groovigen Bass und Schlagzeug. Letzteres ruft stellenweise durch seine Intensität und Eindringlichkeit ein absolut bedrückendes Gefühl hervor. Und dann ist da natürlich der Frontmann Jesse Barnett, der ungebremste Wut in seiner Stimme hat, verzweifelt schreit, spricht und damit mit jeder Silbe unter die Haut geht. Nicht ohne dabei oft und wunderschön mit seinem klaren und weichen Gesang eine ganz besondere Stimmung zu erzeugen.
Ja, man merkt es bereits: ich habe mich (musikalisch) noch mehr und tiefer verliebt. Es gibt einfach so unglaublich viele Matches zwischen den neuen Songs und dem, was mich in Bezug auf Liebe zur Musik packt. Und das war beim ersten Anhören ehrlich gesagt noch nicht so glasklar. Mir hatten die bereits erschienenen Singleauskopplungen schon sehr gut gefallen, und doch war da nach den 30 Minuten erstmal ein „Ach das war’s jetzt schon? Hm…“ Der erste Eindruck musste sich erst langsam setzen. Allerdings war es schon zu spät und unvermeidbar, der Funke war heimlich schon längst übergesprungen. Ich hatte die Frage im Kopf was ich denn eigentlich vom neuen Album erwartet hatte, konnte sie mir tatsächlich bis jetzt nicht beantworten.
Sanfter Einstieg in ein gewaltiges Album
Das Album startet mit dem Instrumentalstück (My Heart Is A…). Es ist ein sanfter Einstieg mit geschrammelter Akustikgitarre, doch dann baut sich im Hintergrund die E-Gitarre ansteigend auf und leitet zum bereits erschienenen Weapon über. Dies ist ein sehr klassischer Stick To Your Guns Song mit schnellem Tempo und drückenden Drums. Der gewaltige Gesang, catchy Refrain und einige „Whoas“ hier und da packen einen sofort und man wird mitten in das Auge dieses musikalischen Sturms gezogen.
Who Dares Wins – wer wagt, gewinnt. So wie es auch dieser Ohrwurm macht, der erst noch leicht dahinplätschert mit kontrastreichem Gesang und Refrain und dann in ein brutaler werdendes Stück mit Gang Shouts übergeht und alles niederwalzt.
Hush nimmt einem regelrecht den Atem, ist direkt in your face, bedrohlich und packend. Das immer wiederkehrende gesprochene „Hush“ zwischen den schnelleren Parts gehört zu den Überraschungsmomenten auf der Scheibe. Bereits bei der Singleauskopplung musste ich den Song sofort ein zweites Mal anhören, weil er mich so beeindruckt hat.
Nach diesem eher düsteren Brocken gibt einem die leichtere und eingängige Melodie von A World To Win wieder etwas Luft zurück. Ein herrlicher Singalong Hardcore-Punk Moment inklusive Charlie Brown Zitat (Wer es findet, bekommt ein Eis von mir).
Klassiker treffen auf Überraschungsmomente
Wuchtige Grooves des Schlagzeugs und passende Gitarrenriffs starten das folgende Open Up My Head. Dieses dürfte musikalisch die größte Überraschung auf dem neuen Album sein. Ein schleppendes, lethargisches und grunge-rockiges Stück Musik. Es ist eine massive Abweichung vom gewohnten Sound und doch durch und durch Stick To Your Guns. Vom Duktus her schwingt hierbei für mich irgendwie der Klassiker Where is my mind? im Hintergrund mit, was auch thematisch gut passen könnte.
Und weil es gerade erstmal so verstörend anders war als gewohnt, haut uns die Band mit Liberate einmal voll in die Magengrube. Zornig und kämpferisch stampft hier der wohl härteste Song des Albums vor sich hin. The Shine kriecht mit aufsteigender Energie bedrohlich tief unter die Haut und hinterlässt ein gewisses Unbehagen. Schnell und packend und dann wieder Erholung durch den sehr melodischen Gesang. Doch die Ruhe währt nicht lange und das düstere Stück entfaltet seine volle Wucht. Instruments Of The End überzeugt mit starkem Gitarrenspiel und Barnetts Gesang ergänzt sich dazu perfekt und rundet den energiegeladenen Song ab.
Wechselbad der Gefühle
Nach all dem Gekloppe kommt das atmosphärische Father ruhig, dunkel und traurig daher. Die Gesänge vom „freedom of death“ beschwören die griechische Phrase „eleftheria i thanatos“. Der Tod des Vaters von Gitarrist Chris Rawson wird hier gefühlvoll verarbeitet. Das folgende More Than Us Than Them lässt nur kurz Zeit zum Innehalten und rollt als musikalische Walze unaufhaltsam auf einen zu. Die nahezu hypnotisierende Melodie und der groovige Bass tragen diesen letzten härteren Song der Scheibe, der zum Ende hin dann ganz ruhig ausläuft.
Dies ist eine perfekte Überleitung auf das ruhige Highlight No Way To Live. Jesse Barnetts weicher und klarer Gesang und das nachdenkliche Thema zielen mitten ins Herz. Kloss im Hals, Kribbeln in der Magengegend, Gänsehaut. Genau so packt mich diese besondere Stimme in den ruhigen Songs immer wieder – sei es bei Stick To Your Guns, Wish You Were Here, Tradewind oder Ways Away. Mit diesem schönen, schlichten und zarten Stück über familienpolitische Differenzen, Religion und Existentialismus schließt Spectre dann mit einer Art Erleichterung ab. Wunderbar versöhnlich wie eine innige Umarmung.
Das Album Spectre braucht vielleicht seine Zeit. Es klingt bekannt und doch so anders. Die Band wiederholt sich nicht sondern arbeitet innovativ an der Verfeinerung und Neuerfindung ihres eigenen Sounds. Im Herbst/Winter können wir uns auf der ausgedehnten Tour dann auch live von der neuen Energie überzeugen.
Achja, Gruß an meine Freunde vom Breaking Noize Podcast: ich mag das selbst gebastelt und kopiert wirkende Design des Covers übrigens sehr : )
Tracklist
- (My Heart Is A…)
- Weapon
- Who Dares Wins
- Hush
- A World to Win
- Open up My Head
- Liberate
- The Shine
- Instruments of the End
- Father
- More of Us Than Them
- No Way to Live
Hier die Tour-Termine: